Ausfahrt 23, seit 2021

Fotografie + Reisebericht
Das Projekt wurde durch ein Arbeitsstipendium der Hessischen Kulturstiftung gefördert. 

Eine besonders schmerzliche Erfahrung zu Beginn der Corona-Pandemie war, dass wir alle unseren Radius einschränken mussten. Wir machten uns trotzdem auf – an einen Ort, der vom Durchreisen geprägt ist: den Autohof Wilnsdorf.
Er liegt an der Ausfahrt 23, knapp hinter der hessischen Grenze im Siegerland und bietet in verdichteter Form alles, was der mobile Mensch braucht: Stellfläche (Parkplatz), Treibstoff (Tankstelle), Ruhe (Hotel), Nahversorgung (Tankstellenshop), Nahrung (Restaurant), Ablenkung (Spielhalle) und Kontemplation (Autobahnkirche).
Der Autohof Wilnsdorf ist ein spannender Transitort, der durch seine Lage, die Verdichtung der Angebote, seine normierte Funktionalität und – im Kontrast dazu – durch eine preisgekrönte Architektur in Gestalt einer extravaganten Kirche besticht. Das Projekt untersucht diesen speziellen Mikrokosmos in mehreren Aufenthalten mittels Bild und Reisebericht.

Auszüge aus unserem Reisebericht

Das Hotel ist kein Ziel für Urlauber. Es beherbergt fast ausschließlich beruflich Reisende, wie Geschäftsleute, Autobahnbauarbeiter, Monteure oder Berufskraftfahrer. Letztere sind aufgrund der verbindlich vorgeschriebenen Wochenruhezeit an das Kabinenschlafverbot gebunden. Dieses untersagt das Schlafen im LKW nicht grundsätzlich, schreibt bei langen Fahrten aber regelmäßige Übernachtungen in geeigneten Unterkünften vor. Es wird davon ausgegangen, dass der „Fahrer in der Kabine nicht die Erholung finden, welche für eine wöchentliche Ruhezeit geeignet wäre.“ So lesen wir bei www.bussgeldkatalog.org.

Niemand kommt hier ziellos vorbeigeschlendert. Wer hier hält, hat ein Bedürfnis oder einen leeren Tank. Wer hier hält, will weiter.

Die ambitionierte Architektur der Kirche, die eigentlich schuld daran ist, dass dieser Nicht-Ort in unserem Kopf haften blieb, überzeugt aus allen Perspektiven. Das renommierte Architektenbüro schneider + schumacher (Frankfurt a. M.) steckt hinter dem zackigen Baukörper, den weißen Flächen, der Zeichenhaftigkeit. Die Kirche wirkt in ihrer abstrakten Sprache wie ein Fremdkörper zwischen den sonst so profanen Zweckarchitekturen. Sie weckt Erinnerungen an ein Raumschiff oder ein riesenhaftes Faltobjekt und – ja, natürlich, wenn man vor dem Eingang steht, an Batman. Sie ist eine große helle Skulptur, deren gedankliche Hintergrundfolie das bekannte Kirchenpiktogramm ist, und steht als überkonfessionelle Andachtsort 24 Stunden für die innere Einkehr bereit. Von außen ist die Anmutung kühl, im Kirchenraum wird es dagegen heimelig, höhlenartig und holzlastig.  

Wir beobachten spezielle Formen des Rastplatzpragmatismus: Ein Motorradfahrer zieht seine schweren Stiefel an der Tanke aus und kauft auf Socken Gummibärchen ein. Neben seinem Laster rasiert sich ein Brummifahrer Kopf und Brust. Die losen Haare bläst er sich mit Druckluft vom nackten Oberkörper. Die leere Ladefläche eines Lastkraftwagens wird zum Wäschetrockenraum. Ein Tesla-Fahrer schließt sein Auto an der Tanksäule an und macht Lockerungsübungen, bevor er zum Joggen aufbricht. Einige Besucher der Wochenendandacht in der Autobahnkirche kehren danach im Maxihof-Restaurant zum Essen ein.

Wir besorgen Radler und Weingummis an der Tankstelle und unser Abendbrot bei Burger King. Der erste Whopper seit sehr vielen Jahren. Dann im Hotelzimmer Tatort schauen. Das ist mal sicher: In jedem Zimmer ein TV-Flatscreen! Und unsere Vorstellungen von gesundem Essen sind beurlaubt.

Herbst 2021. Draußen herrscht rauer Gestaltungspragmatismus, der Gastrobetrieb gibt sich dagegen rustikal, dekoriert und „urgemütlich“. Falsche Fachwerkfassaden und Dekomaterial treffen auf echte Alltagsdinge aus einer anderen Zeit – Erntekörbe, Tonwaren oder nostalgische Blechdosen tauchen in erstaunlichen Mengen auf. Fake paart sich mit dinglichen Fakten. Die alten Fenster sind echt und fügen sich in eine Collage aus billig-kitschig und wertig-gestrig ein. Ein merkwürdiger Ort, der von zwei Fernsehscreens dominiert wird. Ohne Ton läuft ntv mit Nachrichtenticker. Die neuen Coronazahlen werden in den Gastraum gespült, in dem sich einige Gäste (unter 2G-Regeln) eingefunden haben.Später lesen wir auf der Homepage der MAXI-Autohöfen, dass alle ihre Restaurants nach dem klingenden Motto „Taverne“ eingerichtet sind. 

Dafür wird mit den regionalen Nachbarschaften und Heimatmuseum zusammengearbeitet, die entsprechende Ausstellungsstücke zur Verfügung stellen.

Die Leuchtreklame des MAXI-Autohofs ist eine Landmarke. Sie ist weithin zu sehen und verbindet uns gedanklich mit zuhause. Auch in der Peripherie unseres Dorfes mit guter Autobahnanbindung liegt ein Maxirasthof. Wenn wir im Feld spazieren gehen, sehen wir häufig zuerst den gigantischen Werbephallus, der weithin über die Äcker leuchtet und lockt. In Wilnsdorf macht sich die exponierte Lage bemerkbar und gen Süden haben die Werbetafeln ihre farbige Strahlkraft verloren. Matt reihen sich die Logos und Piktogramme für die Tankstelle, den Maxihof, das Restaurant, Burger-King und die Spielhalle untereinander. Nur letztere prangt noch in satten Farben, alle weiteren sehen aus, als sei ein riesiger Aquarellfarbkasten bemüht worden. Wir schauen später nach, wie diese Giganten heißen und lernen: Werbe- oder Reklameturm. Und besonders schön: Fernkennzeichnungsmasten. Diese werden nur von „versierten Werbetechnikern realisiert“.


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