Andrea Gerk, aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung ab jetzt wollen wir es weit bringen, 2018

„Hier wird mit großer Ausdauer an Themen gearbeitet, die wie der Teig behandelt werden, der in vielen Werken seinen Auftritt hat – so in etwa werden hier, wie mir scheint, auch Ideen angesetzt, liegengelassen, hervorgeholt, durchgeknetet und erneut liegen gelassen, um weiter zu gären. Auch im Betrachter. Denn bei einem derartigen Vorgehen entstehen weniger Einzelwerke als Serien – wie Jörg Wagners Zyklus des Bergigen. Wenn daraus dann einzelne Bilder zu sehen sind, wie in dieser Ausstellung, setzt sich die Serie im Blick des Betrachters fort. So entstehen bei Ingke Günther und Jörg Wagner und ihren Zusehern Prozesse, die mit einem Lebensthema dieser beiden – und vielleicht von uns allen – zu tun haben: Das Sammeln, Anhäufen, Sortieren und Verwerfen – ob es dabei um Abendbrot-Brettchen, Kuchenplatten, Eierschneider und Gießkannen geht oder eben auch um Erdhaufen, Gerümpel, Schimpfwörter oder Sprichworte. (…)
Man kann hier sehen, wie die Dinge ein Eigenleben entwickeln und erleben, was der Begriff eigentlich bedeutet – wie überhaupt Begriffe, Worte, Sprüche eine wichtige Rolle spielen, die auf ganz unterschiedliche Weise neu lesbar und anders erfahrbar werden. Scheinbar Großes wird mit Belanglosem kombiniert – Bedeutsames mit Alltäglichem, so dass immer auch etwas Heiteres mitschwingt, eine leichte Absurdität und Komik, die unseren Alltag ohnehin bestimmt, man muss nur anders hinsehen, dann wird gleich alles leichter und erträglicher. Und genau dazu, zumindest finde ich das, inspiriert die Arbeit von Ingke und Jörg – es sind ausdauernde, akribische, ästhetische Alltagserkundungen zu Phänomenen, die allzu oft links liegen gelassen werden, übersehen, geringgeschätzt werden, obwohl sie unser Leben viel mehr durchdringen und bestimmten als uns bewusst ist. Was wir eher als lästig und unwichtig abtun, wird hier sichtbar und zum Strahlen gebracht.“


Hans-Jürgen Linke, Von Gärtnerpflichten und Kümmerei, Uniforum, Nr.4 / 8. Oktober 2015

„Ingke Günther und Jörg Wagner sind seit über anderthalb Jahrzehnten als professionelle Künstler aktiv und haben ihre Lebensmittel- und einige ihrer Arbeitsschwerpunkte in Gießen. Sie verstehen sich dabei und treten auf als Künstlerpaar. Ihr Selbstverständnis verlässt sich auf einen großen Fundus an Gemeinsamkeit und Konsens wie auch zugleich auf die autonome Entwicklung und Präsenz eigener Ideen, Themen, Projekte, Differenzen. Ihre künstlerischen Praxisfelder haben große Schnittmengen und ebenso große autonome Bereiche und sind ständig in Veränderung, Erweiterung, Vertiefung. Ein starker Impuls, der in ihren Arbeiten jeweils spürbar ist, richtet sich gegen Trennungen und Unterscheidungen, die nicht notwendig erscheinen: zwischen Universität und Stadt zum Beispiel, zwischen Kunst und Alltag, zwischen Entstehungsprozess und Ergebnis. (…)

Und die vielschichtige und tief greifende Frage, wie man eigentlich lebt, ist ein Fixstern in der künstlerischen Produktion der beiden. Andere Fragen geraten damit fast automatisch an den Rand – etwa die nach marktgängigeren Arten der Selbst-Präsentation im zeitgenössischen Kunstbetrieb. Artefakte zu produzieren lehnen sie nicht grundsätzlich ab, aber es ist nicht primärer Inhalt ihrer Produktivität. Auch wenn Ingke Günther beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von selbst gestickten Schimpfworten auf Büttenpapier angelegt hat, auch wenn Jörg Wagner fotografisch arbeitet. Kunst hat für beide nur Sinn, wenn sie eine enge Verbindung mit Orientierungsmarken wie Authentizität, Reflexion und Selbstreflexion nicht verkümmern lässt. Und es gibt nun mal nichts Authentischeres als den Alltag und seine Verhaltensmodi. Insofern ist ihre Art der Kunstproduktion dem Formenkreis der Performance etwas näher als den klassischen Sparten der Bildenden Kunst. (…)

Das Praxisfeld des Künstlerpaares ist Alltag in seinen landläufigen ästhetischen und sozialen Gestaltungsweisen. Ihr Blick in die Welt ist nicht der von analysierenden Soziologen, sie sind teilnehmend forschende und mit-gestaltende, zuweilen sammelnde Beobachter. Ihre Reflexionen gelten nicht Objekten, sondern Situationen, in die sie selbst auch verstrickt sind. Situationen in der Küche und auf dem Campus, in der Stadt, im Garten, beim Essen, Trinken, Feiern, Tagen. (…) Manche Projekte verhalten sich dabei wie Pflanzen: Einmal geerdet, bilden sie Wurzeln und Rhizome, wachsen vor sich hin, bekommen Eigenleben. Eine der Projektgruppen, in denen sich Ingke Günthers und Jörg Wagners Namen finden, trägt den naheliegenden Namen ‚Gärtnerpflichten‘. Das leitet semantisch und organisch über zu zwei Arbeitsbereichen, mit denen die Produktion der beiden zuletzt erhebliche Prominenz in der Stadt erreichte: Die Landesgartenschau des Jahres 2014 und das Gießkannenmuseum (…). Beide Bereiche haben einen plausiblen Zusammenhang mit den ‚Gärtnerpflichten‘, die sich nicht auf das sprachspielerische ‚Gießen‘ beschränken, sondern in der künstlerischen Trinität von Kommunikation, Partizipation und Wissensvermittlung bestehen. (…)

Und dann ist da noch die Kümmerei. (…) Ihr Aktionsfeld gehört zum so genannten Kulturmanagement, aber Jörg Wagner sieht die Kümmerei nicht als organisatorisches, sondern als künstlerisches Projekt. Es komme darauf an, meint er, mit welcher Haltung man so etwas betreibe: als Manager oder als Künstler. Für die professionelle Haltung des Kulturmanagers stellt die organisatorische Arbeit das eigentliche Aufgabenfeld dar, für einen Künstler aber ist sie eine Voraussetzung der eigenen Produktion. Die grundsätzliche Haltung des Künstlers und auch des Künstlerpaares gegenüber der Welt ist Neugier. Und wenn alles gut läuft, ist sie ansteckend.“


Gerd Andersen, Ausschnitte aus „Jenseits von Mottobüffets und Eventgastronomie – oder was hat Abendbrot mit Kunst zu tun?“, in: FELDFORSCHUNG ABENDBROT, Publikation zum gleichnamigen Projekt, 2009

„Bei Jörg Wagner und Ingke Günther geht es ebenfalls um das Essen als sozialen Akt, jedoch im ‚wirklichen Leben‘. Essen zuzubereiten und zusammen zu speisen, wird als Alltagskultur in eine Form der Lebenskunst überführt und gefeiert. (…) Da ist zunächst die aufsuchende Gastronomie – der Wohnwagen, ein DDR-Modell aus den 1970er Jahren. Mit diesem sind die KünstlerInnen in Wohngebiete eingefahren und haben als Performer und Aktionisten liebevoll Butterbrote geschmiert, verteilt, kommuniziert und das Abendbrot aus dem privaten Kontext in einen öffentlichen Raum überführt. (…) Daraus folgten oft private Einladungen (…). Dort saßen die KünstlerInnen als Feldforscher, als Soziologen und Ethnographen, mal auch als werdende Freunde mit am fremden Tisch. Eine zunächst ungewöhnliche Situation, die aber eine alltägliche Situation aus dem Alltag heraushebt und es möglich macht, sich gerade über diese auszutauschen. (…)

Nicht nur der Geschmack weckt Erinnerungen: Die Retroästhetik, die nicht nur den Wohnwagen auszeichnet, sondern die ganze Gestaltung und Ausrüstung des Projektes durchzieht, ist nicht (nur) Ausdruck einer persönlichen Vorliebe der KünstlerInnen, sondern dient vielen Beteiligten als Erinnerungsbrücke. Bei Gesprächen oder auch durch die Antwortkarten, die Interessierte mit den Butterbrotdosen erhielten, wurde dies deutlich. (…) Essen wurde zur Erinnerungskultur. Jörg Wagner und Ingke Günther gehen als Gastarbeiter zwischen Kunst und Leben bei allen drei Aktionsformen zwei Hauptinteressen nach: Form und Inhalt, Gestalt und Kommunikation des Abendbrotes. Dies zu untersuchen, diskutieren, dokumentieren und künstlerisch zu transformieren ist Ziel ihrer Arbeit. (…) Beides, die Aktionen und die künstlerisch überformten Untersuchungsergebnisse von Ingke Günther und Jörg Wagner, sind ‚Lebenskunstwerke‘, LKWs wie Paolo Bianchi diese Form der Kunst betitelte.“


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