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heute empfehlen wir, 2005

Bespielte Installation, Neuer Kunstverein Gießen

Fotos: Claudia Olbrych, Jörg Wagner, Jörg Wilczek

17.6.2005 / Marcel Baumgartner / aus der Eröffnungsrede:

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben, von Leben und Kunst, gehört ohne Zweifel zu den großen Konstanten in der Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts. Wie oft aber und wo wurde diese Frage liebenswürdiger, unverkrampfter und intelligenter beantwortet als in der Ausstellung (oder handelt es sich doch eher um eine Aktion? oder um eine Installation?), die Ingke Günther und Jörg Wagner für den Neuen Kunstverein Gießen realisiert haben?
Den einstigen stadtbekannten Kiosk temporär wieder als solchen in Betrieb zu nehmen und gleichzeitig seine neue Funktion als Raum für zeitgenössische Kunst nicht aufzugeben: die Realisierung dieser Absichtserklärung der Künstler ist natürlich nur möglich durch eine Gratwanderung. Daß die beiden bei dieser Gratwanderung aber eher aussehen wie Spaziergänger, ist wohl nicht der geringste Aspekt ihrer Leistung.
Im gepflegten Kiosk-Angebot von Günther und Wagner finden sich – nicht nur, aber auffällig viele – erlesene Dinge. Wo sonst in Gießen – und wo sonst in der näheren und weiteren Umgebung – gibt es schon Mary Long Zigaretten oder Huppendorfer Vollbier (dunkel, malzaromatisch, mit feiner Hopfennote)?
Erlesen, aber einfach: Strammer Max, nicht Carpaccio. Keine Diät für anämische venezianische Contessen. Kiosk eben, nicht Harry’s Bar. Günther und Wagner, nicht Cipriani. Nicht Carpaccio also und nicht Caravaggio, weder Canova noch Casanova (Giovanni Battista und Francesco; ihr Bruder Giacomo höchstens, vielleicht, im Zeitschriften-Angebot).
Aber dennoch jede Menge Kunst (unspektakulär; auch im Kühlschrank zu finden, carpacciofarben immerhin; zu Kioskpreisen). Kunst, die nun allerdings ihrerseits mit dem Einfachen, dem Banalen, dem Biederen und dem Trivialen „nur“ spielt (ohne indes der naheliegenden Gefahr der Denunziation auch nur ansatzweise zu erliegen). Was gibt es beispielsweise Biedereres als häusliche Stickerei? Wie herrlich befreiend aber sind doch die liebevoll (kann man überhaupt anders denn „liebevoll“ sticken?) – also: die liebevoll gestickten Schimpfwörter von Ingke Günther: „Arschgeige“, „Schrumpfgermane“ (= Schweizer?), „Pennbruder“. Ganz undenunziatorisch auch die durch das Fotografenauge von Jörg Wagner zu unerwarteter Schönheit mutierten (nicht nur sprichwörtlichen) Häßlichkeiten von Gießen.
Mit viel Witz und Leicht-Sinn (und unter geschicktem Einsatz einer gehörigen Portion Nostalgie) haben Ingke Günther und Jörg Wagner einen Ort geschaffen, an dem Gießens Kunstschaft während zweieinhalb Monaten so gern verweilen dürfte wie früher Maxens Kundschaft – einen Ort, dessen Verschwinden nach dem 27. August man deshalb schon am Tag der Eröffnung prospektiv bedauert. Dennoch könnte die temporäre „Wiederbelebung“ von „Max hat’s“ einem Prozeß Vorschub leisten, der – in paradoxer Umkehrung dieses „Wiederbelebungsversuchs“ – gerade zur Tilgung von „Max hat’s“ aus dem kollektiven Gedächtnis Gießens und zur Schaffung eines neuen Bewußtseins führen könnte – zur Einsicht nämlich: „Max hat’s“ ist tot. Der Neue Kunstverein Gießen aber ist im richtigen Leben angekommen.