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Kostproben, 2021/22

Digitalfotografie, Inkjetprints, 48 x 32 cm

Die Küche als Material und Ort der Kunst

Lisa Beißwanger, 2022

Erst einmal orientieren. Eine Reihe querrechteckiger Bilder in unterschiedlichen Größen. Alle in Farbe, aber nicht bunt. Offenbar eine zusammenhängende Serie. Medium? Fotografie. Sehr wahrscheinlich digitale Aufnahmen, Farbigkeit und Körnung möglicherweise nachbearbeitet. Vielleicht etwas ungewöhnlich für Fotografie: die Bilder sind unscharf. Bewegungsunschärfe evoziert Dynamik, ein Vibrieren oder Pulsieren. Neongelbe Streifenformationen durchkreuzen die Bilder. Vereinzelte Gegenstände sind erkennbar (in order of appearance): ein gehäkelter Topflappen, ein Spiegelei, ein mit Mehl bestäubter Teig, ein kariertes Spültuch, ein Schneebesen, eine Abtropfkelle, ein Kuchenstück (Käsekuchen?), eine gut ausgestattete Messerleiste. Ergo: es handelt sich um eine Serie fotografischer Küchenszenen.

Aus Sicht der Kunstgeschichte ist das In-Szene-Setzen der Küche – einschließlich des dort zubereiteten Essens – ein traditionsreicher Topos. Man denke beispielsweise an niederländische Küchenstücke und Mahlzeitstilleben des 16. und 17. Jahrhunderts und ihre überbordende Fülle an Obst, Gemüse, Fleisch und zubereiteten Speisen. Diese hyperrealistisch gemalten Szenen stellten den Wohlstand ihrer Auftraggeber*innen und die Fähigkeiten ihrer Maler*innen zur Schau. Die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert beliebte Genremalerei inszenierte die Küche indes als beschaulichen Ort und vermeintlich ‚natürliches‘ Habitat der Mägde und Mütter, die sich der Familienversorgung widmeten. Im 20. Jahrhundert entstand im Kontext des Nouveaux Réalisme mit der Eat Art ein Kunstgenre, das reales Essen zum Material der Kunst erklärte, während die Pop Art mit Bildern des Nahrungsmittelüberflusses Kritik an der Konsumgesellschaft übte. Auch jenseits der Hochkunst prägen Küche und Gekochtes die visuelle Kultur der Moderne. Hochglanz-Kataloge inszenieren die Küche als Lifestyle-Objekt während Food-Blogs, Instagram-Feeds und Kochbücher internationaler Kochstars die Lust am Genuss mit Bildern appetitlich angerichteten Essens zelebrieren.

Zurück zu den Bildern von Jörg Wagner. Auch hier handelt es sich um sorgfältig komponierte Küchen-Szenen. Allerdings stellen sie die Küche nicht in ihrer Gesamtheit zur Schau, sondern zeigen ausgewählte Details, die sich erst in der Serie zu einer Art Küchenassemblage zusammenfügen. Auf Hochglanz polierte Speisen sucht man ebenso vergebens wie Personen bei der Küchenarbeit. Auf menschliches Handeln verweisen lediglich die gezeigten Küchenwerkzeuge. Im Vergleich zu den oben genannten Beispielen geht es weniger um das Zelebrieren von Genuss, das Kritisieren von Überfluss oder die Küche als Ort gesellschaftlicher Rollenzuweisungen. Verfremdungseffekte wie die Bewegungsunschärfe oder die abstrakten Streifenmuster halten die Bilder vielmehr in einem Schwebezustand und führen zu einer latenten Desorientierung, zu der auch die starke Ausschnitthaftigkeit beiträgt. Die aus der Bewegungsunschärfe resultierende Dynamik betont das Vergehen der Zeit und den Prozess. In Abwesenheit von Personen entfalten die Dinge ein Eigenleben: die Kelle schwingt, das Mehl staubt, das Spiegelei brät, der Teig geht. Die Dynamik verweist aber auch zurück auf den Künstler und die Bewegung seiner Kamera, womit die Assoziation einer – wenn auch unsichtbaren – Küchenperformance geweckt wird. Der Akt des fotografischen In-Szene-Setzens ist ebenso wichtig wie die Motive selbst.

Die Bilder lassen sich als Ergebnisse einer künstlerischen Befragung von Alltagsrealität lesen. Sie geben Einblicke in die Arbeitsprozesse des Kochens und Kunstmachens und sind zugleich deren Ergebnis. Dass Küchenarbeit und künstlerische Aktion dabei in eins fallen, ist kein Zufall. Wer das Werk von Jörg Wagner kennt, weiß, dass er auch jenseits der Fotografie regelmäßig die Doppelrolle als Koch und Künstler einnimmt und diese durch die Rolle des Gastgebers erweitert – oft gemeinsam mit seiner Partnerin Ingke Günther. Da die vorliegenden Bilder in der privaten Küche des Künstlers entstanden sind, spiegelt sich diese Gastgeberrolle auch hier. Anstatt Gäste einzuladen, nutzt Jörg Wagner die Küche als szenisch-fotografisches Experimentierfeld und markiert sie damit als Atelier und Aktionsraum. Jenseits von food porn und Lifestyle-Objekt zeigt er die Küche als dynamischen Ort der Entstehung und gibt damit Einblicke in das Epizentrum seiner künstlerischen Kreativität.