Berge der Welt, 2013
Digitalfotografie, Inkjetprints, Größe variabel
Der Berg ruft, aber das Brot ist beredt
Ingke Günther
Steil und schroff erheben sie sich vor der Kulisse bewegter Wolkenformationen. Monolithisch ragen sie in den Himmel und verheißen weiten Blick, könnte man sie tatsächlich erklimmen. Spektakuläre Steilwände, schrundige Flanken und glatte Kegel, zerklüftete Bergrücken, pudrig beschneites Gestein und verschattete Höhlen, Überhänge und Rinnen sind nahezu zentral ins Bild gesetzt. Nur für die Sensation und Nahsicht der monumentalen Gipfel ist Platz; ein Umfeld, das Verortung erlaubt, bleibt ausgespart. Es herrscht majestätische Stille. Der Grundton ist Grau.
Ein Berg „ist eine Geländeformation, die sich über die Umgebung erhebt“, so benennt es Wikipedia lakonisch. Doch täuschen die beeindruckenden Erhebungen, die sich auf den Schwarzweiß-Fotografien von Jörg Wagner in Serie reihen, den flüchtigen Blick. Noch während man dem kurzen Impuls folgt, die Namen der steinernen Kolosse zu erinnern, da der Titel der Bilderreihe vorschnell auf diese Fährte lockt, sieht man den offensichtlichen Fake. Man erkennt Luftlöcher statt steinerne Aushöhlungen, sieht Mehl statt Schnee und liest bizarres Gestein und gefährliche Grate als aufgerissene Brotrinde. Anstelle von Geländeformationen setzt Wagner Backwerk ins Bild, statt echter Sechs- oder Achttausender lichtet er eine inszenierte Mimikry aus Kruste und Krume ab.
Seine „Berge der Welt“ sind schlicht: BROTE. Und dies versucht er auch nicht zu verbergen [1]. Der Fotograf investiert nicht viel Mühe in sein Täuschungsmanöver – auf jeden Fall nicht den Ehrgeiz des akribischen Photoshopers, der versucht, die „Bergwerdung des Brotes“ zur Perfektion zu treiben. Seine Mühe ist eher verortet in anachronistischer Bastelei und Handarbeit. Wagner hält reales Brot vor fotografierten Himmelskulissen fest, für die er zuvor verschiedene Wolkenformationen abgelichtet hat. Bildhintergründe wechseln dabei ebenso wie die Brot-Protagonisten. Dem eigentlichen Shooting geht eine umfangreiche Knust-Recherche [2] voraus, d.h. die Hinterteile der Brote werden genau in Augenschein genommen. Immer wieder werden Brote gekauft oder selbst gebacken, die Endstücke abgeschnitten, getrocknet und aufbewahrt – der legendäre Brotsortenreichtum Deutschlands kommt Wagner dabei entgegen. Sein Atelier gleicht einem Brotarchiv, in dem das Backwerk nach seinen plastischen Qualitäten befragt wird. Schließlich zeichnet sich Baguette durch eine andere Formgebung und Oberflächentextur aus als Bauernbrot. Oder das Selbstgebackene ist in Volumen und Beschaffenheit verschieden von den Brotlaiben diverser Bäckermeister. „Die Berge der Welt“ lassen durch ihre kreatürliche Anmutung mitunter schmunzeln, doch sind sie kein bloßer Brot-Berg-Witz. Jörg Wagner ist Bäcker aus Leidenschaft und Abendbrotforscher, der Teigführung, Backen und Brot schon ins Zentrum vieler künstlerischer Aktionen gesetzt hat. Zum Teig und dessen Metamorphose hat er eine manisch-liebevolle Beziehung. Mit diesem Fotoprojekt verbindet er seine besondere Hinwendung zum Brot mit einer schon seit früher Jugend vorhandenen Faszination für das Gebirge mit seiner herausgehobenen Topografie und überwältigenden Wirkung.
Während eines Stadtraumprojektes im Sommer 2012 in Basel [3] entstand eher nebenbei eine Aufnahme, die als Prototyp und Impuls für die späteren Brotlandschaften diente: Ein angeschnittenes Brot, steil aufgestellt auf einem Schneidebrett – im Hintergrund zeichnet sich sehr diffus städtische Umgebung ab. Mit den „Bergen der Welt“ gehen die monolithischen Brotkörper nun in Serie. Unterschiedlichen Persönlichkeiten gleich und wie prototypische Solitäre treten sie ins Bild. Was zu erkennen ist: Brote haben Charakter, ein jeweils sehr spezifisches Gesicht. So sind das Bauernbrot, das helle Sauerteigbrot oder das schlanke Stangenbrot individuelle Typen, aus Teig geschaffene formale Setzungen mit einfacher, aber überzeugender ästhetischer Gestalt.
Neben der starken und auch im Detail reizvollen plastischen Form, die es zweifelsohne auszeichnet, haftet dem Brot als Grund- und Hauptnahrungsmittel aber vor allem die Aura des Ursprünglichen, Lebensnotwendigen und damit Existentiellen an. Auch letzteres verbindet das Brot mit seinem monumentalen Bruder, dem Berg. Nicht nur phänotypisch miteinander verwandt (wenn vom Größenverhältnis abgesehen wird), könnte man sie in einer Gruppe zusammenfassen, für die die Benennung „symbolisch aufgeladene hügelige Objekte“ [4] passend wäre. Denn als Inbegriff für Spiritualität, Beständigkeit, Ewigkeit und Unerschütterlichkeit und in seinem nachbarschaftlichen Dasein zum Himmel steht der Berg dem Brot als Bedeutungsschwergewicht in nichts nach.
Mit seiner Berg-Serie gelingt es Jörg Wagner, die kleinen Sensationen, die Brotkultur und Backkunst hervorbringen, mit den großen Sensationen der Felsgiganten zu verschränken. Die Wertigkeit des alltäglichen und von Menschenhand hergestellten Produkts setzt er in eins mit erhabener Naturschönheit. Brot kann sich verbergen und Größe zeigen, dies ist für den brotaffinen Künstler gewiss, und er führt es hier mit humorvollem Ernst vor. Auf bildnerischer Ebene verschmilzt Wagner die kompakte Kraft von BROT und BERG – und damit auch seine persönliche Hommage an beide.
[1] Wobei der Begriff verbergen im Zusammenhang mit Wagners Brot-Berg-Bildern eine völlig neue Bedeutung zu bekommen scheint. Verbergen sich hier nicht die Brote in einem ganz ursprünglichen Wortsinn?
[2] Zum „Knust“ siehe auch unter Abendbrotforschung, der Blog zur Abendbrotkultur: http://www.abendbrotforschung.net/category/endstueck/
Hier versammelt sich die regionale Vielfalt an Begriffen für das Endstück des Brotes im deutschsprachigen Raum.
[3] Café complet: FELDFORSCHUNG ABENDBROT, im Rahmen von „Stadt(t)räume“ (Installation, Aktion), Stadtraum und Kleiner Marktgräflerhof, Basel, 2012
[4] Eingang in diese neue Gruppierung der zeichenhaft aufgeladenen „hügeligen Objekte“ könnte auch die weibliche Brust finden, wollte sie sich unter Brote und Berge mengen.